Leon fühlte sich, als würde er in einem Ozean aus Dunkelheit treiben. Der Raum um ihn herum war schwarz, so schwarz, dass es schwer war zu sagen, wo der Raum endete und er begann. Doch trotz der Dunkelheit fühlte er sich nicht verloren oder ängstlich; es war eher ein Gefühl von Ruhe, als würde er endlich ein lange gesuchtes Zuhause betreten.
„Willkommen in deiner Pocket Dimension,“ hörte er Al’s Stimme, die jetzt klarer und lebendiger klang als je zuvor.
Leon öffnete seine Augen, obwohl er sich nicht daran erinnerte, sie geschlossen zu haben. Vor ihm materialisierte Al, sein Umfeld füllend mit einer Präsenz, die er bisher nur als eine Stimme in seinem Kopf gekannt hatte. Al nahm die Form einer humanoiden Silhouette an, bestehend aus lebendigem Licht und Schatten.
„Al? Bist du das wirklich?“ fragte Leon, seine Augen weiteten sich vor Erstaunen.
„Ja, Leon. Hier kann ich eine physischere Form annehmen, um besser mit dir interagieren zu können.“
„Und das hier ist meine Pocket Dimension? Was genau ist das überhaupt?“
„Stell es dir als eine private geistige Landschaft vor, ein Raum, in dem du Zugang zu verschiedenen Aspekten des Systems hast. Es ist ein Ort der Reflexion, der Entwicklung und der Entdeckung.“
„Wart mal, warum erfahre ich das erst jetzt? Gibt es noch andere Dinge, die du vor mir versteckt hast?“ Leon konnte den leichten Anflug von Ärger in seiner Stimme nicht unterdrücken.
Al senkte leicht den Kopf. „Ich habe einen Companion-Skill namens ‚Fokus‘ aktiviert, der dazu diente, deine Neugier bezüglich des Systems zu unterdrücken, bis du deine Main-Quest gefunden hast. Ein Erwachter braucht eine Main-Quest wie ein Segelschiff ein Segel. Ohne ein klares Ziel wäre deine Entwicklung chaotisch und ungerichtet gewesen.“
„Und du hast das entschieden? Ohne mich zu fragen?“ Leon fühlte, wie sich seine Stirn in Falten legte.
„Ich verstehe deine Frustration, Leon. Aber es ist meine Aufgabe, dich bestmöglich auf deinem Pfad als Erwachter zu unterstützen. Manchmal erfordert das Entscheidungen, die nicht sofort klar oder angenehm sind.“
Leon atmete tief durch, versuchte seinen Ärger zu kontrollieren. „Gibt es noch andere ‚Companion-Skills‘, von denen ich wissen sollte?“
„Derzeit nicht. ‚Fokus‘ ist mein einziger Skill und er ist nun verbraucht. Ab jetzt werde ich nichts mehr vor dir verbergen. Du hast das Recht, alles zu wissen.“
Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte Leon. „Danke, Al. Vertrauen ist schwer zu gewinnen, aber leicht zu verlieren.“
„Ich verstehe das, Leon. Und ich schätze dein Vertrauen. Ab jetzt wird alles transparent sein.“
Sie standen beide für einen Moment in der Dunkelheit der Pocket Dimension, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken, aber durch ein neues Verständnis miteinander verbunden.
Hinter Al begann sich der Raum zu verändern, als würde die Dunkelheit sich wie ein Vorhang lüften. Ein zweiflügeliges Tor materialisierte sich in einiger Entfernung und schien trotz seiner Festigkeit beinahe irreal in der Schwärze der Pocket Dimension.
„Das dort ist der Eingang zum Kompendium,“ sagte Al, seine Gestalt bewegte sich in Richtung des Tores, und Leon folgte ihm.
„Das Kompendium?“
„Ja. Es ist eine Art Wissensdatenbank und Trainingsraum, den du nach und nach freischalten kannst. Jeder Raum im Kompendium repräsentiert spezifisches Wissen, Fähigkeiten oder Quests, die dir auf deinem Pfad als Erwachter helfen können.“
Während sie sich dem Tor näherten, konnte Leon immer mehr Details erkennen. Das Holz des Tores schien uralt, aber unverwüstlich, mit komplexen Schnitzereien und Mustern, die er nicht identifizieren konnte. Ein metallenes Gitterwerk durchzog die Holzflächen, als würde es die Schnitzereien schützen oder hervorheben. Was ihn jedoch am meisten faszinierte, waren die leuchtenden Runen, die in einem Muster entlang der Ränder und in der Mitte der Torflügel angeordnet waren. Sie schienen in einer Sprache geschrieben zu sein, die er nicht kannte, aber dennoch fühlte er eine seltsame Resonanz, als würde ein Teil von ihm die Bedeutung instinktiv verstehen.
„Die Runen sind Schlüssel zu den verschiedenen Aspekten des Systems,“ erklärte Al, als hätte er Leons Gedanken gelesen. „Mit der Zeit wirst du lernen, ihre Bedeutung zu entschlüsseln und so neue Möglichkeiten im Kompendium freischalten.“
Sie standen nun direkt vor dem Tor, und Leon konnte nicht anders, als sich klein und unbedeutend zu fühlen im Angesicht dieser majestätischen Struktur. Doch gleichzeitig spürte er auch ein Kribbeln der Vorfreude, eine Ahnung der unzähligen Geheimnisse und Möglichkeiten, die jenseits dieses Tores auf ihn warteten.
„Berühre das Tor,“ sagte Al, seine Stimme erfüllt von einer Art ehrfurchtsvoller Stille, die Leon noch nie bei ihm wahrgenommen hatte.
Leon trat vor das massive Tor. Es ragte fünfzig Meter in die Höhe, und er musste seinen Kopf in den Nacken legen, um die Spitze sehen zu können. Er schluckte, streckte dann zögerlich seine Hand aus und berührte die Oberfläche. Sie fühlte sich überraschend warm an, als wäre das Holz am Leben. Die Schnitzereien und Runen schienen unter seiner Berührung zu pulsieren.
Für einen kurzen Moment passierte nichts. Dann hörte Leon ein tiefes, grollendes Geräusch, als würde eine verborgene Maschinerie zum Leben erwachen. Mit einem leisen Ächzen begann sich das Tor zu öffnen. Aber nicht das gesamte Tor, sondern nur eine kleine, mannshohe Tür innerhalb des riesigen Portals.
Verwirrt blickte Leon zu Al. „Was ist das? Warum öffnet sich nur diese kleine Tür?“
Al lächelte sanft. „Das Tor ist in verschiedene Segmente unterteilt. Jedes Segment entspricht einem bestimmten Level deiner Fähigkeiten und deines Verständnisses des Systems. Im Moment kannst du nur dieses eine Segment öffnen. Aber je mächtiger du wirst, desto mehr Segmente wirst du freischalten können, und damit mehr Bereiche des Kompendiums erreichen.“
„Also ist das so eine Art Test meiner Fähigkeiten?“
„Genau. Es ist sowohl ein Test als auch eine Möglichkeit für dich, deine Grenzen zu erkennen und zu erweitern.“
Leon betrachtete die kleine Tür innerhalb des großen Tores und verstand. Das war nicht nur ein Eingang zum Kompendium; es war eine Herausforderung, eine Einladung, sich selbst zu übertreffen.
Leon trat durch die kleine Tür und fand sich in einem Raum wieder, der eher einem gemütlichen, buchreichen Wohnzimmer glich als einem Teil einer unbegreiflichen Dimension. Ein Teppich mit komplexen Mustern lag auf dem Boden, und hohe Regale voller Bücher und Schriftrollen säumten die Wände. In der Mitte des Raums schwebte ein blau leuchtender Würfel, der sich langsam drehte. Runen und Symbole flossen über seine Oberfläche, sich ständig verändernd, aber immer in einem hypnotischen Fluss.
„Der Raum ist nur Dekoration,“ erklärte Al. „Das wahre Wissen steckt im Würfel.“
Leon wanderte durch den Raum, sein Blick streifte die Buchrücken und die kunstvoll verzierten Schriftrollen. Aber als er näher hinsah, bemerkte er, dass die Texte unleserlich waren, als wären sie nur zur Zierde da.
„Alles nur Fassade also,“ murmelte Leon und näherte sich dem schwebenden Würfel. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte die leuchtende Oberfläche.
Ein Fluss von Bildern und Emotionen durchströmte ihn. Er sah Wesen, die menschenähnlich, aber doch andersartig waren. Ihre Augen leuchteten mit einer Intelligenz und einer Art von Weisheit, die Leon noch nie erlebt hatte. Sie bewegten sich durch Städte aus Kristall und Metall, durch Wälder, die in Farben leuchteten, die er nicht einmal benennen konnte. Er fühlte ihre Neugier, ihre unendliche Suche nach Wissen und Verständnis. Er spürte ihre Traurigkeit und ihre letzte, verzweifelte Handlung, das System zu erschaffen, bevor ihre Welt in einem unaufhaltsamen Untergang versank.
„Sie waren wie wir, aber auch so anders,“ flüsterte Leon, als der Fluss der Bilder endete und er wieder in der Realität des Kompendiums stand.
Leon blieb einen Moment lang stumm, während er das Gesehene verarbeitete. Schließlich wandte er sich an Al: „Das war… überwältigend. Diese Wesen, diese Zivilisation – sie waren so weit fortgeschritten und doch am Ende so verzweifelt. Sie hatten die Macht, ganze Welten zu erschaffen, aber sie konnten sich selbst nicht retten.“
„Ja,“ bestätigte Al. „Ihr Wissen und ihre Technologie waren weit jenseits von dem, was wir heute verstehen können. Und dennoch waren sie dem Untergang ausgeliefert. Es ist eine Mahnung, dass Wissen allein nicht ausreicht. Es geht darum, wie man es nutzt.“
„Und dieses System, es ist ihr Vermächtnis, nicht wahr? Ihre letzte Handlung, um die Samen ihrer Weisheit in die Zukunft zu tragen, in der Hoffnung, dass jemand wie ich sie findet und besser nutzt?“
„Genau so ist es,“ sagte Al.
Leon blickte wieder auf den Würfel, der immer noch leise in der Mitte des Raums schwebte. „Und dieses Ding, dieser Würfel, er enthält mehr als nur die Geschichte dieser Zivilisation. Er hat die Macht, meine Welt zu verändern, nicht wahr?“
„Er hat die Macht, viele Welten zu verändern,“ korrigierte Al. „Je weiter du in deinem Verständnis des Systems vorankommst, desto mehr Möglichkeiten werden sich dir eröffnen. Und nicht nur dir, sondern auch den Menschen um dich herum.“
Leon nickte, ein neues Gefühl der Entschlossenheit in sich spürend. „Dann ist es an der Zeit, tiefer einzutauchen. Ich will mehr wissen, mehr verstehen. Ich will nicht nur für mich selbst, sondern für die Welt um mich herum das Beste daraus machen.“
„Das ist der Geist,“ sagte Al, ein Hauch von Stolz in seiner Stimme.
„Bevor wir gehen, gibt es noch eine Sache,“ sagte Al, seine virtuelle Form strahlte ein intensives Leuchten aus, als er eine Hand hob. „Du hast den ersten Schritt gemacht, mehr über das System und sein Erbe zu lernen. Dafür sollst du belohnt werden.“
Ein kleines Licht erschien über Al’s Handfläche, das sich langsam zu einer leuchtenden Samenkapsel formte. Al reichte es Leon.
„Das ist ein ‚Awakening Seed‘. Du bist nicht der Einzige, der von dem System erweckt wurde, aber du hast jetzt die Macht, anderen zu helfen, ihr eigenes Erwachen zu finden,“ erklärte Al.
Leon nahm den Samen vorsichtig in seine Hand. Er spürte eine Wärme und ein sanftes Pulsieren, als ob das kleine Ding lebendig wäre. „Wie benutze ich es?“
„Du wirst wissen, wann die Zeit reif ist. Wenn du jemanden triffst, der bereit ist, erweckt zu werden, wird der Samen reagieren. Du kannst dann entscheiden, ob du ihn verwenden willst oder nicht,“ sagte Al.
„Und was passiert, wenn ich es tue?“
„Die Person erhält Zugang zum System und zu ihrer eigenen Main-Quest, genau wie du. Aber sei vorsichtig: Mit großem Wissen kommt große Verantwortung. Nicht jeder ist bereit für die Macht, die das System bietet.“
Leon nickte und schloss seine Hand um den Awakening Seed. „Ich verstehe. Ich werde weise damit umgehen.“
„Das hoffe ich,“ sagte Al, „denn die Zukunft könnte von deinen Entscheidungen abhängen.“
„Die Zukunft könnte von deinen Entscheidungen abhängen,“ wiederholte Leon die Worte von Al in seinem Kopf, während er den Awakening Seed in die Tasche seiner Jacke steckte. Er spürte, wie die Worte eine neue Gewichtung in seiner Seele fanden, wie sie zu einem Mantra wurden, das ihn in den kommenden Tagen begleiten würde.
Al nickte und sein virtuelles Abbild begann langsam zu verblassen. „Es ist Zeit zurückzukehren. Wir haben noch viel vor uns, und deine Main-Quest wartet.“
Leon nickte und schloss die Augen. Als er die Augen öffnete fand er sich in der vertrauten Umgebung der Bibliothek wieder. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass keine Zeit vergangen war. Aber in seinem Inneren wusste er, dass er eine lebensverändernde Reise hinter sich hatte.
Er spürte ein Kribbeln auf der Unterseite seines Handgelenks und zog seine Ärmel hoch. Ein leuchtendes Tattoo in Form des Awakening Seeds hatte sich dort materialisiert. Es pulsierte sanft und die leuchtenden Linien schienen sich leicht zu bewegen, fast als wäre es lebendig.
„Was zum…?“ Leon starrte das Tattoo an, fasziniert und gleichzeitig beunruhigt. Er wusste, dass er es vor den anderen verbergen musste. Schnell zog er seine Ärmel wieder herunter und überlegte fieberhaft, wie er das Tattoo verbergen könnte. Ein Armband? Ein breites Lederarmband könnte funktionieren.
„Die Zukunft könnte von meinen Entscheidungen abhängen,“ dachte er, während er seine Sachen packte und sich anschickte, die Bibliothek zu verlassen. Seine Main-Quest wartete nicht, und er fühlte, wie die Worte in ihm eine neue Resonanz fanden. Er trat aus der Bibliothek hinaus, den Rucksack fest geschultert und das Tattoo sorgfältig verborgen, aber sein Herz voller neuer Möglichkeiten.
„Der Weg zur Elite – Schuljahresherausforderung,“ ging es ihm durch den Kopf. Und dann, mit einem entschlossenen Lächeln, fügte er in Gedanken hinzu: „Tag Eins.“
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